In seinem 2011 gedrehten Dokumentarfilm „Aufbruch der Frauen“ porträtierte der Filmemacher Walter Wehmeyer acht Pionierinnen der österreichischen Frauenbewegung. Bei den Recherchen dafür stieß er auch auf Lina Loos, die nach 1945 in der Frauen- und Friedensbewegung engagiert, Vizepräsidentin des Bundes demokratischer Frauen sowie Mitglied des Österreichischen Friedensrates war.
Ihre persönliche Entwicklung beeindruckte ihn, die Idee eines Spielfilms tauchte auf. Wehmeyer und eine Autorengruppe am Film und Medien Zentrum Margareten recherchierten Linas Lebensweg. Originalbriefe von Adolf Loos an Lina, geschrieben zwischen 1902 und 1905, gaben den Ausschlag, gerade diese Zeit in ein Drehbuch zu fassen.
Carolina Obertimpfler, genannt Lina, war Schauspielschülerin. Ihre Eltern führten ein Kaffeehaus, der Vater galt als Wiener Original. Linas Bruder war Schauspieler, ihre ältere Schwester Schriftstellerin. Die junge Lina hatte keine ehrgeizigen Pläne, aber sie war eine aufmerksame Beobachterin und verstand es, pointiert zu formulieren. Durch die Heirat mit Loos im Sommer 1902 erwartete sie ein spannendes Leben in der Wiener Künstler- und Intellektuellenszene, an der sie regen Anteil nahm. Lina machte sich stets ihre eigenen Gedanken. Doch Adolf Loos, der früher ihren Geschmack gelobt hatte, begann schon bald „sein Mädili“ zu kritisieren und wollte sie nach seinen Vorstellungen formen. Als Lina begriff, dass er davon nicht lassen würde, rebellierte sie und wandte sich Heinz Lang zu, der sich leidenschaftlich in sie verliebt hatte.
Nach einem Aufenthalt in den USA war Adolf Loos seit 1896 dabei, sich als Architekt und Designer zu etablieren. Er sah sich als Pionier der Moderne und agierte entsprechend sendungsbewusst. Loos schrieb Artikel, hielt Vorträge an Volkshochschulen, entwarf aufsehenerregende Wohnungs- und Geschäftsaustattungen, diskutierte und stritt in den Kaffeehäusern. Seine besten und lebenslangen Freunde waren Peter Altenberg und Karl Kraus. Bevor Lina ihn persönlich traf, las und schätzte sie seine provokanten Texte. Auch für Loos war die umschwärmte Tochter des Cafetiers Obertimpfler keine Unbekannte. Als sie ihm im Beisein Peter Altenbergs, der Lina ebenfalls verehrte, vorgestellt wurde, überrumpelte er sie mit einem Heiratsantrag, den sie – mindestens so unkonventionell wie er selbst – tatsächlich annahm.
Zahlreiche Briefe, die Loos an Lina schrieb, von der er oft durch Geschäftsreisen getrennt war, zeugen von großer Liebe zu ihr. Der von Kindheit an schwerhörige Loos bezeichnete sich selbst ohne Lina als „unter den vielen vielen Menschen ganz einsam“. Und doch konnte er dem Drang nicht widerstehen, die geliebte Frau verändern zu wollen und damit in ihrer Lebendigkeit stark einzuschränken. Seine häufige Abwesenheit schuf ideale Bedingungen für Linas Affäre mit dem Gymnasiasten Heinz. Als Loos schließlich Liebesbriefe des Geliebten im Schlafzimmer seiner Frau fand, war er tief getroffen.
Der Jurist Edmund Lang und seine Frau, die Frauenrechtlerin Marie Lang, hatten drei außergewöhnliche Kinder, deren Begabungen und Schönheit in der ganzen Stadt bekannt waren. Der älteste Sohn, Heinz Lang, wollte nach seiner Matura Medizin studieren. Mit siebzehn Jahren galt er bereits als vollwertiges und gern gesehenes Mitglied des Kreises um Peter Altenberg und Adolf Loos, gemeinsam mit Lina unternahm die Gruppe Wanderausflüge zum Semmering. Anfangs schwärmte Lang für die drei Jahre ältere Lina, wie viele andere auch. Doch der impulsive junge Mann nahm die Geschichte ernst, die Entfremdung zwischen den Eheleuten Loos ließ auch genug Spielraum für eine echte Liebesbeziehung. Lang wollte mit Lina leben. Als Adolf Loos die Affäre nach Monaten entdeckte, stellte er Lina vor die Wahl. Heinz Lang, der bereits in England auf Lina wartete, erhielt stattdessen einen vernichtenden Brief ihres Mannes und wenig später einen heute verschollenen Brief von Lina. Darauf erschoss sich Lang. Unbedachte Worte Peter Altenbergs sollen dabei ebenfalls eine Rolle gespielt haben.
Mit diesem Gesellschaftsskandal endete die Ehe von Adolf und Lina Loos. Sie dauerte keine drei Jahre. Arthur Schnitzler verarbeitete die Ereignisse in seinem Theaterstück „Das Wort“, das allerdings mit Rücksicht auf Altenberg erst Jahrzehnte später uraufgeführt wurde.
Lina Loos wurde im Laufe ihres Lebens von vielen Männern verehrt, heiratete jedoch nie wieder. Adolf Loos ging bald nach der Scheidung eine langjährige Beziehung mit der Tänzerin Bessie Bruce ein und sollte noch zweimal wesentlich jüngere Frauen heiraten.
Lina Loos wurde über 60 Jahre alt. Ihre Arbeit am Theater, viele interessante Freundschaften, ihr eigenes Schreiben, ihre Philosophie und ihr politisches Bewusstsein – das alles kam nach der Ehe mit Loos. Warum nur so ein kurzer Ausschnitt aus einem an Ereignissen überreichen Leben?
W.W.: Natürlich bietet das gesamte Leben von Lina Loos viel Stoff für einen spannenden Spielfilm. Man kommt aus dem Staunen gar nicht mehr heraus, was diese Frau alles erlebt hat. Vor allem aber, mit welcher Haltung sie sich selbst bis zu ihrem Lebensende treu geblieben ist und wieviel Mut sie immer wieder bewiesen hat. Denken wir nur an das Jahr 1938, als viele ihrer engsten Freunde plötzlich fort mussten, umgebracht wurden oder sich wie Egon Friedell selbst töteten. Lina, damals 55 Jahre alt, ging angesichts der brennenden Synagogen durch Wien und sagte laut und deutlich vernehmbar: Ich bin Zeugin...
Der pragmatische Grund für unsere Entscheidung war, dass „Lina“ die Low-Budget-Produktion eines kleinen Teams ist. Der ebenso wichtige künstlerische Grund war, dass uns gerade ihre persönliche Entwicklung in diesen drei Ehejahren interessiert hat. Anhand der erhaltenen Briefe und verschiedenster biografischer Mosaiksteine konnten wir nachvollziehen, wie ein empfindsamer junger Mensch eine große Krise durchlebt.
Mit Loos, Lina und Altenberg treten drei prominente Persönlichkeiten der österreichischen Kulturgeschichte in Erscheinung.
W.W.: Zu dieser Zeit wurde in Wien praktisch in jedem Kaffeehaus Geschichte geschrieben. Die Stadt war wie ein Biotop, in dem Wissenschaft und Kunst blühten, Psychoanalyse, Philosophie, Zwölftontechnik, moderne Architektur, Malerei und Literatur. Aber die historische Bedeutung unserer Figuren und exakte Details waren für uns weniger wichtig. Uns hat der Mensch Loos mehr interessiert als der Architekt, denn wenn es persönlich wird, berührt es uns auch heute. Bei Loos die Einsamkeit, seine Leidenschaft und eine erste Ahnung von dunklen Seiten eines Mannes Anfang 30. Oder Altenberg, der seine knappen Texte in einer genialen Präzision geschrieben hat und trotz aller Poesie immer zu kurz gekommen ist bei den Frauen, die er verehrte. Bei Lina war es vor allem ihr starker Charakter, ihre innere Klarheit, die in dieser jungen Frau schon angelegt war und sich durch ihr ganzes Leben ziehen sollte.
Die Entstehungsgeschichte des Filmes ist ungewöhnlich, es gibt eine Handvoll Drehbuchautoren und Regisseure.
W.W.: Wir waren ein sechsköpfiges Team und hatten unterschiedlichste Erfahrungen im Bereich Film. Die Drehbuchautoren/innen übernahmen auch die Regie ihrer Szenen. An der Dramaturgie wurde gemeinsam gearbeitet. Die Gesamtkoordination lag bei mir, aber es ist eine Teamarbeit. Nach über zwei Jahren der Vorbereitung erlebten wir endlich diese Freude, mit einem professionellen Aufnahmeteam und phantastischen Schauspielern an die Arbeit zu gehen.
Ist „Lina“ ein Frauenfilm?
W.W.: Es ist ein Film mit einer historischen Heldin im Zentrum der Geschichte. So etwas gibt es in den letzten Jahren häufiger, die spannenden Frauenpersönlichkeiten verschiedenster Epochen tauchen endlich auf im Kino und im Fernsehen und das ist eine große Bereicherung für Frauen und Männer. Als Mensch lastete der Tod Langs und das Scheitern ihrer Ehe auf ihrer Seele. Dass es für eine Frau Anfang des 20. Jahrhunderts nicht so einfach war, sich nach drei Jahren scheiden zu lassen, ist nachvollziehbar. Lina mußte sich selbst erhalten und verlor ja auch die mit dem Geld ihrer Eltern aufwändig umgebaute Wohnung in der Bösendorferstraße, auf die Adolf Loos so stolz war. Aber sie hat sich gegen den bequemen Weg entschieden, mit knapp 23 Jahren. Lina ging für ein Engagement nach Amerika, spielte danach Kabarett in Berlin und kehrte schließlich zurück nach Wien, wo sie sich keinesfalls versteckte, sondern im Volkstheater auftrat und im Kabarett Fledermaus, Artikel und Stücke schrieb und viele Freundschaften pflegte. Wir alle können uns an Lina Loos ein Beispiel nehmen, wie man authentisch lebt.